Am Anfang stand die Krise. So war es bei der Genossenschaftsbewegung – maßgeblich ins Leben gerufen von Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Auch während der Coronakrise kommt den Genossenschaften eine besondere Bedeutung zu, sei als Bank, als Lebensmittelerzeuger-Genossenschaft oder als Supermarkt-Kette. Jürgen Gros, der Vorstandsvorsitzende und Präsident des Bayerischen Genossenschaftsverbands beantwortet drei grundsätzliche Fragen zum Genossenschaftswesen.
ONETZ: "Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele." Welche Bedeutung hat dieser Satz Friedrich Wilhelm Raiffeisens für die Wirtschaft der Gegenwart?
Jürgen Gros: Eine ungebrochen hohe und stetig wachsende. Raiffeisen hat mit dem Kernsatz seines Denkens das Funktionsmuster unserer Wirtschaftsordnung, der Sozialen Marktwirtschaft, vorweggenommen. In einer Krisensituation des 19. Jahrhunderts, nämlich einer großen Hungersnot, hat er nach einer Lösung gesucht, um den Menschen das Überleben zu sichern. Und Raiffeisen fand sie darin, dass sich Menschen mit gleichgerichteten Interessen zusammenfanden. So entstand eine Gemeinschaft aus Kreditgebern und Kreditnehmern, aus Produzenten und Konsumenten, aus Ideengebern und Machern. Das prägt Genossenschaften bis heute. Füreinander einstehen, gemeinsame Interessen verfolgen, Mehrwert für jeden einzelnen durch gemeinsames Wirtschaften zu schaffen. Auf dieser Basis bilden die bayerischen Genossenschaften mit 2,9 Millionen Mitgliedern in 1212 Unternehmen eine der größten mittelständischen Wirtschaftsorganisationen im Freistaat.
ONETZ: Wie unterscheidet sich der Aktionär vom Anteilseigner einer Genossenschaft?
Jürgen Gros: Genossenschaften beruhen auf dem Prinzip „Ein Mitglied, eine Stimme“. Das heißt: Jedes Mitglied hat unabhängig von der Höhe seiner Kapital- oder Sachbeteiligung das gleiche Gewicht. Die Mitglieder können damit Einfluss auf die Geschäftstätigkeit nehmen und bestimmen aktiv über die Ausrichtung ihrer Genossenschaft in den jährlichen Vertreter- oder Generalversammlungen mit. Damit wird Unternehmertum ganz aus der Nähe spürbar. Dass das attraktiv ist, zeigen 22 Millionen genossenschaftliche Anteilseigner in Deutschland und rund eine Milliarde Menschen weltweit durch ihre Beteiligung an einer Genossenschaft. Genossenschaften sind Netzwerke von Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen, Interessen und Ideen. So gesehen hat Raiffeisen auf analoger Basis etwas geschaffen, was sich vom Ansatz her dann auch die Begründer der digitalen und sozialen Medien des 21. Jahrhunderts zu eigen gemacht haben, nämlich Menschen zu vernetzen.
ONETZ: Welche Rolle können Genossenschaften bei der Stärkung des ländlichen Raums spielen?
Jürgen Gros: Unsere Gesellschaft erlebt seit geraumer Zeit eine Renaissance des Regionalen. Produkte regionaler Herkunft haben Konjunktur, die Verbindung zur Heimat wird zum Wert. Die Heimat lebenswert zu erhalten und zu gestalten, treibt die Menschen an. Und sie wertschätzen es, wenn sich Unternehmen für ihre Heimat engagieren. Die Genossenschaften in Bayern tun das. Sie sind Heimatunternehmen. Die 227 Volksbanken und Raiffeisenbanken genauso wie die 985 ländlichen und gewerblichen Genossenschaften. Erstere geben 6,4 Millionen Kunden im Freistaat eine Finanzheimat. Letztere setzen zum Beispiel Waren und Dienstleistungen von rund 12,7 Milliarden Euro in der Heimat um. Zusammen bieten sie rund 50.000 Arbeitsplätze in der Heimat. Und 2020 werden sie wohl mehr als 500 Millionen Euro an Steuern zahlen. Auch das ist ein Beitrag zur Stärkung des ländlichen Raums.
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